Rezension „Blutbuch“, Kim L`Horizon

Nonbinarität und Gendersternchen* in der Literatur.

Den Deutschen und den Schweizer Buchpreis 2022 erhielt der Roman „Blutbuch“ von Kim de L‘Horizon.

Das Außergewöhnliche. Dieses Mal das Buch von einer nonbinären Person, die sich weder als Mann noch als Frau identifiziert und sich im nonbinären Körper und der eigenen Sexualität wohlfühlt.

Ja, ich gendere! Ich habe mich von meinen Söhnen, Schwiegertöchtern überreden lassen, ja überzeugen lassen, auch von Untersuchungen, die zeigen, dass sich ein Teil der Menschen nicht angesprochen fühlen, wenn ich nur die maskuline Form verwende. Ich gebe zu, es ist ungewohnt, es bremst beim Sprechen. Beim Schreiben von Fachliteratur benutzte ich das Gendersternchen, doch beim Schreiben literarischer Texte, tut es weh. Ehrlich gesagt, das geht doch nicht!

Und nun also gendert Kim de L’Horizon in Blutbuch mit einer Lässigkeit und Sprachgewandtheit, die seines gleichen sucht. Es bremst kein bisschen, wenn hier statt man – mensch steht und auch nicht wenn Gendersternchen bei Artikeln angewandt werden. Es geht also. Ich bin beeindruckt. Vielleicht liegt es aber auch an der ausdrucksstarken Sprache, über die L’Horizon verfügt und mit der meisterhaft gespielt wird.

„Ich habe dich erst besucht, als du angefangen hast zu verschwinden“, schreibt die Erzählfigur über die demenzerkranke Großmutter, die im Zentrum der Suche nach dem Stammbaum der Familie der Blutbuche steht. Jahrelang von ihr umsorgt, fühlte L’Horizon ein Unbehagen, wenn die Großmutter das Kind streichelte oder in den Arm nahm.

„Es tut mir leid, Oma, ich habe das als Kind nicht verstanden. So wie ich keinen Unterschied zwischen deinem und meinem Körper gespürt habe, hast du keinen Unterschied zwischen meinem und deinem Köper gespürt, und deshalb hast du mich so sehr gestreichelt: du hast unbewusst versucht, dich selbst zu beruhigen. Wie arrogant von mir dein Streicheln zu hassen. Es war nicht für mich bestimmt.“ (330)  L’Horizon schildert in Blutbuch seine Suche nach Erklärungen dafür.  

Das Verbindendende. Es ist das Thema vieler Autor*innen, sich auf die Suche nach den Eltern, ihren Großeltern, der Blutbuche ihrer Traumata zu machen, in der Hoffnung, sich selbst besser verstehen können. Zu verstehen, warum es manchmal triggert, wenn scheinbar ohne Grund Gefühle wie Angst, Scham, Schuld auftauchen. Die Neurowissenschaft hat mittlerweile nachgewiesen, dass durch die Spiegelneuronen in unserem Gehirn Aktivitätsmuster gespeichert werden und somit Traumata über Generationen hinweg weitervererbt werden können. Traumata unserer Vorfahren können somit Auswirkungen auf unser Seelenleben haben.  

„Auch heute noch spüre ich meinen Körper nicht richtig, … Ich weiß nicht, wo ich anfange und wo ich aufhöre. …“ (30)

L’Horizon macht sich auf die Suche nach Erklärungen und stößt auf die Traumata seiner Großmutter. Er nennt sie die zweite Rosmarie. Die Urgroßmutter hatte ihre erste Tochter Rosemarie genannt. Als diese stirbt, gerät sie in Trauer und nennt die nächste Tochter auch Rosemarie, in dem Glauben, die erste Rosemarie wieder zurückzugewinnen. Die Großmutter trägt die Bürde, das Leben ihrer großen Schwester leben zu müssen, sie ist nur Ersatz. Die Großmutter hatte eine kleine Schwester, wie man aus den Fotoalben weiß, die Irma hieß und die sie über alles geliebt hat. Diese Irma wurde vom Urgroßvater geschwängert und von der Urgroßmutter in eine damals für uneheliche Schwangere übliche Weiberarbeitsanstalt (326) geschickt. Irma verschwand. Der Verlust für die Großmutter war groß. Als sie selbst schwanger wurde, versuchte sie mit Stricknadel abzutreiben, was ihr nicht gelang. Und so nannte sie ihr Mädchen Irma, auch sie in der Hoffnung, ihre kleine Schwester dadurch wieder zurückzubekommen. Irma 2, die Mutter von L’Horizon, kann nicht ihr eigenes Leben führen, sie wird als Ersatz für Irma 1 gesehen. L`Horizon beschließt die Erbschaftslinie zu durchtrennen. Er weigert sich die Erblast weiterzutragen. „… ich glaube, das ist unsere ganze Kultur, das ist das Patriarchat, das ist Hamlet: die Aufgaben der Eltern zu übernehmen. …, sein eigenes Leben nicht zu führen. …, zu all dem zu schweigen, zu diesem Fluch; ihn benennen, heißt ihn zu brechen, und das ist der Grund, warum ich dich (Großmutter) verrate. Denn du hast dein ganzes Leben lang ertragen, ein Ersatz zu sein, und du hast darüber geschwiegen. …. Aber ich kann nicht die Nächste sein, ich kann das Schweigen nicht fortsetzen, denn ich werde keine Kinder haben.“ (327) So weit ist L’Horizons Buch für mich spannend und nachvollziehbar und unterscheidet sich nicht von Romanen anderer Autor*innen. – Doch mich interessierte vor allem die Körperlichkeit, das Körperbild, die körperliche Identität. Die Frage, wie ist das, wenn mensch sich weder als Frau noch als Mann fühlt.

Das Verstörende. „Ich war nie mein Körper. Er war zu sehr dieses und jenes, aber niemals ich.“ L´Horizon wird keine Kinder, auch keine feste Beziehung haben. „Ich möchte nicht zugestopft sein.“ Und was ist mit Sex?

„Ich spüre meinen Körper nur, wenn ich ihn fortgebe, wenn ich ihn anderen anbiete, jemensch in mich eindringt, die selbst errichteten Grenzen meines Körpers durchdringt und sich dahinter hinterlässt.“(30)    

Ich habe hier bewusst eine harmlose Textstelle aus dem Buch gewählt. In harten Sexszenen (z.B. 162) schreibt die Erzählfigur davon, wie Metallgitter, Betonwände, U-Bahnschächte gebraucht werden, an die sie gedrückt, gestoßen wird. Das Gegenüber, meist aus einer niedrigen Gesellschaftsschicht (Putzmann, Altenpfleger), oft mit Migrationshintergrund, wird gebeten, gedrängt, angebettelt körperliche Gewalt nahe am Tode auszuüben, um sexuelle Befriedigung, mit Blut, Körperflüssigkeiten und Schmutz (in Toiletten) zu erlangen und in den Rausch einzutauchen L’Horizon beschreibt sexuelle Befriedigung durch körperliche Gewalt.
„Also, wie ist dein Sex?“ (328), fragt Dina eine Freundin aus dem Tessin.
„Welches meiner Sexthemen meinst du?“, fragt L’Horizon.
„Deine Sexsucht?“
„Es ist keine Sucht, es ist nicht pathologisch, ich habe nur eine ausgeprägte Libido. – Wie geht es deinem boy?“, unterbrach L‘Horizon das Gespräch.

Das ganze Buch über versucht L’Horizon das Schweigen über die Traumata zu überwinden. Und jetzt, wo er gefragt wird, weicht er aus. Körperliche Gewalt, auch beim einvernehmlichen Sex zweier erwachsener Menschen, bleibt Gewalt. Gewalt ist immer Erniedrigung, bedeutet Machtgefälle, Abhängigkeit und Unfreiheit. Das ganze Buch über versucht L’Horizon sich von der Erblast zu befreien, durch das Schreiben, zuerst auf Englisch, dann auf Deutsch. Traumata,  entstanden durch Gewalt, sollen benannt werden, damit sie nicht weitergegeben werden an die nächste Generation. Und jetzt schweigt L’Horizon, fühlt sich im nonbinären Körper und in der eigenen Sexualität wohl.

„Sexualität ist keine Privatsache“, sagt Rosa von Praunheim, der Vorreiter des Coming-out der Schwulen und Lesbenbewegung. Ich stimme ihm zu. Sexualität muss Thema sein dürfen, um die schönste Sache der Welt vor Gewalt schützen zu können. Sexualität war lange Zeit ein Tabu. Gewalt in der Sexualität wird endlich seit Metoo und dem Bekanntwerden der Missbrauchsfälle Minderjähriger in unserer Gesellschaft ernst genommen.

Fragen, die bleiben:
1 Wenn die Erzählfigur sich als Mann oder Frau identifizieren würde, würde dann auch niemand über die lebensbedrohliche Gewalt im Sex sprechen?
2 Warum taucht in der Literaturkritik nur ein einziges Mal das Wort Analverkehr auf und wird ansonsten das Thema körperliche Gewalt zur sexuellen Befriedigung galant umgangen? Es drängt sich der Verdacht auf, dass mensch Preise vergibt, um nicht länger über das Buch reden zu müssen. L’Horizon hat uns neue Horizonte von einem Leben in einem nonbinären Körper und vom Freisein eröffnet. Die Jury und mit ihr die Gesellschaft gibt sich als tolerant, weltoffen und fortschrittlich. Doch wo bleibt die öffentliche Debatte, die Diskussion über Gewalt beim Sex?

Dieses Versäumnis in der Rezension dieses Buches birgt die Gefahr, dass wir weiterhin über Gewaltszenen schweigen. Egal ob wir ein Buch verbieten oder es in den Himmel loben – in beiden Fällen muss mensch, sich nicht länger damit auseinandersetzen.

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