Ali lernt Deutsch

Er war zwölf Jahre alt und saß mit geneigtem Kopf auf seinem Stuhl und sah auf seine Hände, die in seinem Schoß lagen.

 „Sie müssen ihn ablenken, er ist ganz traurig“, sagte Serhat, sein Banknachbar, zu mir.

„Wo kommst du her?“, fragte ich Ali.

„Vier Monate“, antwortete er.

„Nein, ich meine, wo warst du Zuhause?“

„Welserstraße“, antwortete er und zeigte mit seiner Hand auf die Fenster der Ostseite des Klassenzimmers.

„Jetzt lebst du in Deutschland“, erklärte ich ihm, „aber in welchem Land hast du vorher gelebt?“.

„Kiel“, antwortete er.

Ich holte einen Atlas, legte ihn auf die Bank und schlug Vorderasien auf. Er zeigte auf Afghanistan.

„Welchen Weg seid ihr gegangen?“

„Afghanistan, Iran, Türkei“, sagte er und fuhr dabei mit dem Finger über die Landkarte.

„Mit Bus oder mit LKW?“

„Sie sind sehr weit gelaufen“, mischte sich jetzt Serhat wieder ein.

„Und dann von der Türkei aus, wie weiter?“, fragte ich.

Ali schaute mich an, stand auf, ging zum Regal mit den Sprachspielen und kam mit dem Memory-Spiel zurück. Er durchsuchte alle Bilder, bis er das Bild mit einem Schiff hatte.

„Mit dem Schiff?“

„Ja, Schiff, heißt das“, antwortete er.   

„Seid ihr mit einem großen Schiff gekommen, oder mit einem Boot?“  

„60 Personen, Boot, Wasser hier“, wobei er mit der Handkante die Wasserhöhe an seinem Kinn anzeigte. „Rucksack, Kleider –  Wasser, T-Shirt, Hose – nass.“

„Das ist schlimm“, sagte ich, „aber jetzt seid ihr in Sicherheit und alles ist gut.“ Ali nickte und schaute mich mit großen, stummen Augen an.

   „Sie müssen ihn ablenken“, mischte sich Serhat erneut ein, der die ganze Zeit aufmerksam zugehört hatte, „sonst wird er wieder traurig.“ 

„Ist deine ganze Familie mitgekommen?“, fragte ich weiter.

Ali schien irritiert, ich wusste nicht, ob er mich verstanden hatte.   

„Dein Vater?“ Ali nickte.

„Deine Mutter?“ Er nickte.

„Hast du eine Schwester oder einen Bruder?“

„Schwester, 18, Deutschkurs“.

„Und dein Vater und deine Mutter?“

„Vater Deutschkurs, Mutter nein“, gab er zur Antwort.  

„Hast du noch Verwandte in Afghanistan?“

Ali nickte: „Großvater, Bruder, 16“

„Telefoniert ihr, schreibt ihr Briefe?“, mimte ich mit Hand und Kopf nach.

Ali schüttelte den Kopf: „ …  tot. Polizei, Großvater, Bruder, Grenze, Afghanistan – tot.“

„Aber warum?“

Ali, zuckte mit den Schultern und schaute mich verlegen mit seinen traurigen Augen an, als ob er sich dafür schämte. Dann neigte er den Kopf hinunter und schaute wieder auf seine Hände.

   „Sie müssen ihn ablenken, sonst wird er traurig“, kam erneut die Aufforderung von Serhat, seinem Banknachbarn. Und als ich nicht reagierte, nahm er das Ruder in die Hand.

„Ali, hast du noch Freunde in Afghanistan?“, fragte er.  

„Alle weg gegangen.“

„Du kannst die doch mit Handy anrufen, oder habt ihr keine Handys?“

„Doch…, keine Nummern“, antwortete er, zuckte mit den Schultern und hob die Hände.

„Wollt ihr Memory spielen?“, fragte ich, nachdem ich mich wieder etwas gefangen hatte.

„Au ja“, rief Serhat, „spielst du mit, Ali?“ Er nickte.

„Ich will aber, dass ihr die Namen der Dinge auf den Bildkarten benennt, wir haben Deutschunterricht.“  

„Ja, ok“, sagte Serhat und Ali nickte.

Ein Baum gehört zu einem Baum,

ein Haus zu einem Haus  

und Alis Bruder ist 16 und ist tot.

Eine Blume gehört zu einer Blume,

eine Taschenlampe zu einer Taschenlampe,

ein Boot zu einem Boot

und Alis Bruder ist 16 und ist tot.

Buntstifte gehören zu Buntstiften,

Luftballons zu Luftballons,

Feuerwehrautos zu Feuerwehrautos,

und Alis Bruder ist 16 …

Serhat gewann das Spiel, er hatte den höchsten Turm mit Memory Karten. Ich hatte den mittleren und Ali den niedrigsten – sein Bruder ist tot. 

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