Sophie will geküsst werden

Diesen Sommer will ich geküsst werden, dachte Sophie und verabredete sich mit ihrer Freundin im Biergarten.

Zwei Jahre ist es jetzt her, seit Christian mit ihr Schluss gemacht hatte. Den ersten Sommer schmerzte es sie noch sehr, wenn sie Liebespaare auf der Wöhrder Wiese Ball spielen und rumtollen sah. Sie nahm sich jedes Mal vor, nicht hinzuschauen, wenn diese eng ineinander verschlungen auf ihren Decken lagen und sich zärtlich liebkosten. Die ganze Welt schien glücklich und verliebt zu sein. Oft lag sie abends bei geöffnetem Fenster auf ihrem Bett, hörte unten vom angrenzenden Biergarten herauf die fröhlichen Stimmen und das Lachen. Auch das wollte Sophie nicht hören, sie zog die Decke über den Kopf und weinte sich viele Male in den Schlaf. Doch diesen Sommer ging sie hinunter, lief mehrmals durch den Biergarten, dessen Wirt ein Grieche war, und verabredete sich immer öfter mit Kolleginnen oder ihrer Freundin dort, so wie auch an diesem Abend.

Noch saß Sophie alleine am Tisch. Zwei WhatsApp hatte Marie geschrieben. „Komme später.“ „Warte bitte.“ Marie war nicht immer die Zuverlässigste. Der Tisch war viel zu groß für Sophie. Doch immer wenn jemand fragte, ob der Tisch schon belegt sei, konnte Sophie nicht schnell genug antworten: „Ja, aber nur ein Platz“, bevor der Suchende schon Ausschau nach einem neuen Tisch hielt.

An ihrem Aussehen konnte es nicht liegen, dachte Sophie. Wie oft hatte sie schon gehört, wie hübsch sie war. Heute hatte sie ihr langes dickes Haar zu einem Zopf geflochten und über ihre Schulter gelegt. Sie hatte große dunkle Augen und einen Bronzeschimmer auf der Haut. Sie trug ein schulterfreies Kleid und die dunkelblaue fließende Seide ließ alles in der Sommerhitze golden glitzern. Manchmal glaubte sie, dass ihre Schönheit, wie eine magische Grenze, die anderen davon abhielt sich zu ihr zu setzen.

Am gegenüberliegenden Tisch beobachtete Sophie eine Frau, deren dicker Hintern in Jeans eingezwängt war und deren T-Shirt wie abgeschnitten ihren speckigen Bauch freilegte, aus dessen Nabel ein Piercing lugte. Mit ihren roten langen Fingernägeln der rechten Hand umklammerte sie die Schulter eines Mannes, der auf der Bank vor ihr saß, wobei sie gleichzeitig ihren großen Busen gegen seinen Rücken drückte. Mit der anderen hob sie ein Bierglas hoch und prostete ihren Freunden zu. Ihre Lippen waren tief rot bemalt und ihr blonder Wuschelkopf fiel jedes Mal nach hinten, wenn sie wieder mit einem ihrer flotten Sprüche die ganze Reihe zum Lachen gebracht hatte. Diese Frau konnte andere Menschen glücklich machen, dachte Sophie und ein tiefer Seufzer drang durch ihre Brust.

In dem Moment sah sie, wie ihr vom Nebentisch jemand zuwinkte. Es war eine Kinderhand und jetzt hob die Mutter die Hand. Und während Sophie noch überlegte, wer das wohl sein könnte, kamen die beiden schon auf sie zu. Es war Nikos, ein Schüler, den sie seit Jahren in der Grundschule betreute. 

Nein, dachte Sophie. Ich hab Feierabend, ich will nicht.  

Doch da hatte die Mutter den Jungen schon auf Sophies Bank geschoben und sich danebengesetzt. Seit vier Jahren hatte Sophie in der Schulberatung vergeblich versucht, die Mutter davon zu überzeugen, dass Nikos dringend Erfolgserlebnisse brauche und es am besten wäre, wenn er in eine Förderschule ginge. Auch wenn die Noten ausgesetzt worden waren, lernte Nikos schnell die römischen Ziffern zu entschlüsseln, die nun auf den Probearbeiten standen und selbst als die Klassenlehrerin Sterne statt Ziffern auf sein Blatt schrieb, wusste Nikos, dass fünfzackige Sterne eine fünf bedeuten und sechszackige eine sechs. Er spürte, dass er von der Leistung her der schlechteste in seiner Klasse war und Sophie war es leid, erneut über das Drama dieses Kindes sprechen zu müssen. Plötzlich standen der Vater und die Großeltern von Nikos ebenfalls auf und kamen zu Sophies Tisch herüber. Nikos wurde von seiner Mutter näher zu Sophie herangeschoben und dann wurden Onkel und Tante herbei gerufen, für die Platz gemacht worden war. Rechts von Sophie kletterte der kleine Bruder auf die Bank und nun war es aussichtslos, an die Tasche unter dem Tisch mit der ersehnten Nachricht von Maries Ankunft heranzukommen. Mittlerweile war sie von der ganzen Familie Magaritis eingerahmt.

„Mein Mann“, sagte Frau Magaritis und zeigte auf den Mann, der Sophie gegenüber saß und ihr freundlich zunickte.

„Die Oma“, sagte sie und zeigte auf die ältere Frau mit weißen Haaren.

„Sie gute Lehrerin“, rief die Großmutter Sophie zu und nickte freundlich.

„Der Opa“, stellte Frau Magaritis weiter vor und zeigte auf den älteren Mann mit der ledernen Gesichtshaut, der daneben saß und Sophie ebenfalls freundlich zunickte, wobei seitlich im Mund eine Zahnlücke zu sehen war. 

„Sie gute Lehrerin!“, rief die Großmutter, der Großvater nickte und in der Zwischenzeit stand ein Tablett mit zehn Ouzos auf dem Tisch und alle wollten mit Sophie anstoßen.

„Nikos geht in Förderschule, im Februar“, sagte die Mutter und strahlte dabei über das ganze Gesicht.   

Und jetzt nickte Sophie zustimmend, da sie keine Lust auf eine neue Diskussion hatte und kippte ihren Ouzo hinunter, wobei der Großvater ihr freundlich zuprostete.

„Das ist Tante und Onkel“, sagte die Mutter. „Onkel auch viel Problem in Schule und Cousin auch. Liegt in Familie“, sagte sie und lächelte Sophie freundlich an.

„Sie gute Lehrerin“, sagte die Oma erneut und jetzt trank die Mutter ihren zweiten Ouzo und prostete ihrem Mann zu.

„Wir wollen gute Ausbildung für Kinder haben, machen alles dafür. Wir umziehen und dann Nikos kommt in Förderschule.“

Sophie nickte und war erleichtert zu sehen, wie Platten mit griechischem Bauernsalat, gegrillten Kalamari, Gyros, Tzatziki und Körbe mit Weißbrot auf den Tisch geschoben wurden und jeder einen weißen Teller bekam und somit das Thema in den Hintergrund geriet. Ein Weinglas tauchte irgendwo hinter ihrem Rücken auf und Besteck in weiße Servietten eingewickelt wurde neben die Teller gelegt. Man begann die Platten herumzureichen und wünschte sich guten Appetit.

„Kaliméra“, sagte der Wirt, der plötzlich an der Seite vom Biertisch stand und allen zunickte.

„Das ist mein Cousin“, stellte dieses Mal der Vater vor. „Ich arbeite in Hotel von ihm.“

„Und ich putzen Zimmer“, sagte die Tante und Sophie nickte ihnen höflich zu. Sie liebte griechischen Salat.

Es wurde wieder angestoßen, dieses Mal mit Retsina, und der Wirt, der das Glas hob, prostete Sophie zu und sagte: „Sie gute Lehrerin.“

„Wir ziehen um, alle, in neue Wohnung und dann Nikos im Februar kommt in Förderschule“, sagte die Tante und umarmte Nikos Mutter, die Tränen in den Augen hatte.

Sophie verstand gar nichts mehr, warum im Februar und nicht jetzt, Anfang September, dachte sie und warum umziehen. Der kleine Bruder saß nun mittlerweile auf ihrem Schoß und so traute Sophie sich zu fragen, aus welcher Gegend in Griechenland denn die Ursprungsfamilie stamme.

„Karpathos“, riefen alle wie im Chor.

„Sie Karpathos kennen?“

„Ja, im August war ich mal dort wandern“, antwortete Sophie.

„Wandern in heißer Sonne, das nicht gut. Blut fängt an zu kochen“, sagte die Oma, „aber sie gute Lehrerin“ schob sie gleich nach und wieder wollten alle mit ihr anstoßen.

Sie redeten noch über Korfu, über den Peloponnes, den die Familie noch nie bereist hatte, und beim Abschied fiel ihr zuerst die Mutter um den Hals, küsste sie auf die rechte Wange und dann auf die linke und wieder auf die rechte und die Tante drückte sie fest an sich und küsste sie ebenfall links und rechts und wieder links und die Oma nahm Sophies Gesicht in beide Hände und küsste sie auf die Stirn und auf beide Nasenflügel, so dass Sophie kaum Luft bekam. Die Männer hoben die Hand, schmunzelten und grüßten mit „Kalispera“ und die Kinder, die schon zur alten Steintreppe am Ausgang des Biergartens gelaufen waren, winkten ihr noch mal zu. 

Sophie schwankte leicht als sie hoch in ihre Wohnung ging. Sie warf sich aufs Bett und fiel bei geöffnetem Fenster in einen wohligen Schlaf. Am nächsten Morgen schreckte sie hoch, sie hatte den Wecker überhört. Schnell ging sie unter die Dusche und hastete ohne Frühstück aus dem Haus. Auf dem Flur in der Schule kam ihr die Klassenlehrerin von Nikos entgegen und schüttelte nur lachend den Kopf.

„Wie hast du denn das geschafft? Die Mutter von Nikos war da und erzählte, dass er im Februar in die Förderschule geht und dass sie extra dafür in die Nähe der Schule umziehen.“ 

Sophie zuckte die Schultern und schmunzelte, und bevor sie ins Klassenzimmer ging, holte sie ihr Smartphone aus der Tasche und schrieb noch schnell eine WhatsApp an ihre Freundin:

„Liebe Marie, bin gestern viel geküsst worden. Sophie“

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